Führung erfordert auch Beziehungskompetenz

Die Fähigkeit von Führungskräften, Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, ist entscheidend für erfolgreiche Führung und eine positive Arbeitskultur, die Vertrauen, Engagement und individuelle Stärken fördert. Beziehungskompetenz bildet die Grundlage für Eigenverantwortlichkeit, die Bewältigung von Aufgaben und die Bindung von Fachkräften. In Zeiten des raschen demografischen, technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels ist dies ein entscheidender Erfolgsfaktor für Unternehmen.

Beziehungskompetenz als Schlüsselkompetenz

Aus unserer eigenen privaten und beruflichen Erfahrung wissen wir, dass die Gestaltung positiver Beziehungen ein anspruchsvolles und komplexes Unterfangen darstellt: Beziehungen zu anderen Menschen entstehen, verändern sich und lösen sich auch mal auf. Negative Beziehungen können Krisen auslösen, während positive Beziehungen uns Energie geben und uns helfen, schwierige Zeiten zu überstehen. Virginia Satir, Autorin und Sozialtherapeutin, betont passend zum Thema:

«Ich glaube daran, dass das grösste Geschenk,
das ich von jemandem empfangen kann, ist,
gesehen, gehört und verstanden zu werden.
Das grösste Geschenk, das ich geben kann, ist,
den anderen zu sehen, zu hören und zu verstehen.
Wenn dies geschieht, entsteht Beziehung.»

Beziehungskompetenz in der Führung ist die Fähigkeit einer Führungskraft, konstruktive zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten. Es handelt sich um ein Bündel an Fähigkeiten und Eigenschaften, die positive und produktive Arbeitsbeziehungen ermöglichen. Zu den Schlüsselfaktoren der Beziehungskompetenz gehören Kommunikation, Konfliktlösung, Kooperation, emotionale Intelligenz und Empathie.

Beziehungen gestalten bedeutet, mit voller Aufmerksamkeit beim Gegenüber zu sein, ohne abzuschweifen oder an kommende Aufgaben zu denken. Dies beginnt bereits damit, Gespräche in einer ungestörten Umgebung zu führen, ohne Ablenkungen. Wenn ein Mitarbeiter ein Anliegen hat, aber Sie gerade mit vielen Gedanken beschäftigt sind oder einen dringenden Anruf erwarten, vermeiden Sie kurze, unaufmerksame Gespräche. Vereinbaren Sie stattdessen einen späteren Zeitpunkt, um ungestört und aufmerksam zu sein.

Die vier Ebenen der Beziehungsgestaltung

Der amerikanische Organisationspsychologe Edgar Schein verortet Beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden innerhalb eines Kontinuums von vier «Beziehungsebenen», welche in unserer Gesellschaft akzeptiert und uns vertraut sind:

Ebene Minus 1 – Verleugnung des Menschseins: Beziehungen basieren auf Zwang und unpersönlicher Beherrschung, wie zum Beispiel in Gefängnissen, der Kriegsgefangenschaft oder unterdrückenden Organisationen wie der Mafia. Vertrauen und Offenheit sind minimal, es können jedoch Beziehungen zum Eigenschutz entstehen.

Ebene 1 – Anerkennung eines Menschen in seiner Rolle: Diese transaktionalen, rollen- und regelbasierten Beziehungen finden sich in Dienstleistungen, Helferbeziehungen und professionellen Kontexten. Es handelt sich dabei um Beziehungen mit Fremden sowie auch zu direkten Vorgesetzten und Arbeitskolleginnen und -kollegen, zu denen wir eine angemessene professionelle Distanz wahren. Es besteht ein gewisses Vertrauen, jedoch bleibt die Beziehung auf die jeweiligen Rollen beschränkt.

Ebene 2 – Betrachtung des ganzen Menschen unabhängig von Rolle und Status: Diese Ebene beinhaltet persönliche, partnerschaftliche Beziehungen, unabhängig von Rollen und Status, wie in Freundschaften oder unter Teamkolleginnen und -kollegen. Hier ist ein höheres Mass an Vertrauen und Offenheit vorhanden.

Ebene 3 – Tiefe Bindung zu einem Menschen: Diese Ebene umfasst vollständig gegenseitige, emotional-intime Beziehungen, die starke positive Gefühle oder intimen körperlichen Kontakt beinhalten. Typischerweise in Ehe- oder Lebenspartnerschaften sowie engen Freundschaften, wo wir uns unsere privaten Gefühle mitteilen.

Beziehungsdynamik im Wandel: Die Brücke von formellen Rollen zu echten Menschen

Transaktionale Beziehungen auf Ebene 1, die auf Rollen und Verhaltensregeln basieren, sind in vielen Organisationen noch üblich. Schein betont aber auch, dass in der heutigen Zeit des raschen Wandels Zusammenarbeit, Vertrauen und Offenheit erforderlich sind, um Schritt zu halten. Für erfolgreiche Veränderungen in Organisationen sollte die Beziehung zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden auf die persönlichere Ebene 2 umschwenken. Schein ist überzeugt, dass im beruflichen Kontext eine offene und vertrauensvolle Beziehung möglich ist, während wir gleichzeitig die Grenzen der Angemessenheit und Privatsphäre wahren.

Auf Ebene 2 betrachten wir das Gegenüber nicht mehr nur als «Rolle», sondern sehen die Person wahrhaftig als vollständigen Menschen. Führungskräfte können dies besonders gut erreichen, indem sie persönliche Fragen stellen oder auch selbst Persönliches preisgeben. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass Ebene 3 im beruflichen Kontext vermieden werden sollte, da sich auf dieser Ebene eine Form von «Verbrüderung» oder «Vetternwirtschaft» entwickeln kann, die in unserer Führungskultur als nicht professionell erachtet wird. Die Grenzen zwischen Ebene 2 und Ebene 3 sind jedoch gemäss Schein fliessend, also situationsabhängig, dynamisch, individuell und eine gemeinsame Angelegenheit zwischen den Involvierten.

Spannungsfelder in der Beziehungsgestaltung

Zwei scheinbar widersprüchliche Bedürfnisse prägen uns Menschen – das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit einerseits, Wachstum, Entfaltung und Autonomie andererseits. Das erste strebt nach Stabilität, das letztere nach Weiterentwicklung. Diese Kombination kann zu Reibung führen. Dennoch suchen wir genau diese Mischung in Beziehungen und in der Arbeit. Erst wenn wir das Gefühl haben, die Möglichkeit zur Weiterentwicklung und gleichzeitig Sicherheit zu haben, erleben wir Beziehungen als positiv und bereichernd.

Beziehungsorientiertes Führen wird falsch verstanden, wenn es nur darauf abzielt, eine enge Beziehung zu pflegen. Beziehungsorientierte Führung erfordert eine ausgewogene Balance zwischen Nähe und Distanz. Führungskräfte können nicht allen Wünschen gerecht werden, dennoch ist eine ausgewogene Beziehungsgestaltung entscheidend.

Beziehungskompetenz ist erlernbar und keine Einbahnstrasse

Beziehungskompetenz ist erlernbar: Es bedeutet nicht, das bisherige Führungsverhalten komplett über Bord zu werfen. Vielmehr sollte es unter dem Fokus der Beziehungsorientierung betrachtet und mit einer anderen Haltung praktiziert werden. Dabei geht es darum, neue Handlungsoptionen und Verhaltensweisen zu entwickeln, die einer stärker vertrauensbasierten Arbeitsbeziehung entsprechen.

Mitarbeitende sehen sich oft in einer Abhängigkeit und übertragen der Führungskraft die volle Verantwortung dafür, dass es ihnen und dem Team gut geht. Eine Beziehung entsteht jedoch durch Gegenseitigkeit und ist keine Einbahnstrasse. Alle Beteiligten müssen sich bewusst sein, dass niemand die alleinige Verantwortung trägt. In einem funktionierenden Beziehungssystem müssen alle Mitglieder gemeinsam an einer gesunden Beziehung arbeiten. Daher tragen Mitarbeitende als Teil der Führungsbeziehung eine Mitverantwortung für tragende Arbeitsbeziehungen und menschliche Führung.

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